Urban Planting: plötzlich Beetschwester
Die Idee: Ja, wir wollen einen Garten!
Jeden Morgen in der Redaktionskonferenz berichtete unsere FOODIE-Kollegin Steffi von Fortschritten und Rückschlägen in ihrem ersten eigenen Garten. Jetzt, wo es bald losgeht mit der grünen Welle, erzählt die Grafikerin von ihren Erfahrungen mit traurigen Tomaten und entzückenden Zucchini.
„Bist du irre?“, fragten Freundinnen von mir. Andere meinten nur knapp: „Respekt!“ Stimmt schon: Ich arbeite Vollzeit als Grafikerin und habe zwei Töchter, Lilli und Hannah, die zur Schule gehen. Von Langeweile also keine Spur. Eines Tages aber brachte Lilli eine Tomatenpflanze aus der Schule mit nach Hause. „Die will ich einpflanzen“, verkündetet sie. Okay – aber wo bitteschön? Unser eigener kleiner Garten ist ein schattiges ehemaliges Kiesabbaugebiet, da hat Gemüse keine Chance. Ein Hochbeet? Mit 500 Euro ganz schön teuer, wenn man nicht weiß, was daraus wird.
Da gab mir ein Kollege den Tipp mit den Ackerhelden, die ganz bei uns in der Nähe Flächen vermieten. Ich machte mich schlau, und unser Familienrat sagte: Ja, wir wollen einen Garten. „Das machen die Kinder nicht lange mit“, prophezeiten meine Freundinnen. Aber das Gartenfieber hatte mich gepackt. Ich kaufe ohnehin viel Biogemüse, durch den eigenen Anbau würde ich sicher eine intensivere Beziehung zu heimischen Lebensmitteln bekommen, als Selbstversorgerin Geld und außerdem noch Plastikverpackungen sparen. Und erfahren, was bei uns eigentlich wächst – wobei mir natürlich schon klar war, dass ich keine Avocados ernten würde. Und alle diese Gedanken wollte ich schließlich auch meinen Töchtern nahebringen.
Das Konzept: So läuft es mit den „Ackerhelden“
Der Verein Ackerhelden hat seinen Sitz in Essen und vermietet deutschlandweit Gartenflächen – perfekt also für Stadtmenschen. Im Herbst 2019 haben wir uns für eine von 200 Flächen auf dem Biohof Wulksfelde in Tangstedt bei Hamburg beworben, die Buddelsaison ging von Mai bis November. Kostenpunkt: 200 Euro für 2 x 20 Meter eigenes Gartenglück – inklusive der Basispflanzen sowie einer umfangreichen Betreuung. Und die war für Newcomer wie uns Gold: Der Ordner mit wertvollen Tipps wurde mein täglicher Begleiter, über ein Passwort bekommt man im Netz Zugang zu Video-Tutorials, es gibt einen Newsletter und für Notfälle sogar eine Hotline!
Im Zweifel enteignet
Urban Planting startete für uns im Frühjahr 2020 – und das war in Corona-Zeiten für uns ein Geschenk. Wir hatten ein Ziel, ein großes positives Thema, das uns als Familie beschäftigte, ablenkte und zusammenschweißte. Doch man muss sich auch bekennen: Fährt man in den Urlaub, muss man die Ackerhelden informieren, wenn ein Beet verkommt, wird man im Zweifel enteignet, und auch nur zertifiziertes Ökogemüse ist erlaubt. Sogar die Schutznetze müssen bio sein.
Die Lerneffekte beim Urban Planting: Hallo, Parzelle 68
Der Anfang war für mich ein kleiner Schock: Da kommst du zu deiner heiß ersehnten Parzelle 68 – und alles, was du siehst, ist schwarze Erde weit und breit. Unvorstellbar, dass da jemals etwas blüht! Aber dann rücken die Trecker an und setzen Salat, Kohl, Zucchini; ein Drittel der Fläche kann man individuell bepflanzen: Wir entschieden uns für Paprika, Feuerbohnen, Karotten, Tomaten, Radieschen, Mais, Kürbis und Gurken.
Wer sitzt neben wem
Tja, und dann stellst du fest, dass alles gar nicht so easy ist: Welche Maschengröße brauche ich für die Netze zur Schädlingsabwehr? Wie in der Schule ist auch hier die große Frage: Wer sitzt neben wem? Verträgt sich Kürbis mit Mais? Macht Paprika die Möhren nieder? Fasziniert schaute ich die lütten Mais- und Zucchini-Setzlinge an und konnte Wochen später nicht glauben, was daraus geworden war: Aus einer Zucchinipflanze allein haben wir bis zu 70 Exemplare geerntet.
Endlich erfährt man auch, wie Gemüse ursprünglich aussieht, dass der Spitzkohl etwa lange Zeit gar nicht spitz ist, dass man die Blüten der Zucchini essen und füllen kann, dass eine Zwiebel viel mehr ist als die Knolle, dass der Kürbis romantisch rankt wie im Märchen – bis ins Nachbarfeld. Und dass Gelbe Bete, geraspelt mit Feta, einen coolen Salat ergibt. Außerdem: dass Unkraut wirklich weg muss, damit die Pflanzen stärker werden. Da wurden wir schnell zu Spießern: Unser Unkraut war immer weggezupft, das Beet picobello. Mich hat es verrückt gemacht, wenn überall Grünzeug lag. Ich habe auch Seiten an mir entdeckt, die ich vorher gar nicht kannte.
Learning by Doing beim Urban Planting
Nein, der Garten lässt einen nicht kalt. Ob etwas gedeiht oder nicht, nehme ich durchaus persönlich. Total geärgert habe ich mich, dass ich die Karotten zu hektisch und zu dicht gesät habe, das haben sie mir übel genommen und wuchsen mir aus Rache krumm und schief entgegen. Jeden ausgewachsenen Mangold habe ich mit Schmackes komplett rausgerissen, ich wusste nicht, dass er wunderbar nachwächst, wenn man ihn nur abschneidet. Mit Gurken war gar nichts, während sich die Nachbarin über 60 Stück freute. Da verzweifelt man schon. Zu spät eingesetzt? Zu wenig Wasser? Von drei Tomatensorten kullerte eine einfach grün vom Strauch. Warum? Müssen sie verjüngt werden wie Rosen?
Bloß kein Huschi huschi
Der Garten lehrt mich vieles: aufs Detail zu schauen, mir Zeit zu nehmen, ihn ernst zu nehmen, runterzukommen – im wahrsten Sinne des Wortes. Je mehr du dich konzentrierst, desto besser wird das Ergebnis. Huschi huschi – vergiss es! Das Gießen war immer mein Angstgegner. „Nicht so viel wässern“, predigen die strengen Ackerhelden, denn die Wurzel soll durch den Mangel stark werden, wie beim Wein. Wenn die Blätter schlapp wurden, hieß es: Jetzt nicht die Nerven verlieren, viele Krankheiten kommen durch falsches Gießen. Das richtige Maß habe ich noch nicht raus.
Und dann der Salat, so viel Salat! Da ist der Druck am größten, was mache ich daraus? Er hält sich ja nicht lange. Unser Familienprojekt hat dazu geführt, dass wir im Sommer 2020 super gesund gelebt haben, wohl noch nie haben wir so viele Gemüsepfannen gegessen.
Netzwerken beim Urban Planting
Mit den Nachbarn haben wir uns oft über Rezepte ausgetauscht, denn irgendwann gingen mir die Ideen aus. Und, klar, jeder guckt beim anderen und vergleicht, mal neugierig, mal argwöhnisch, man fühlt sich schnell beobachtet und will nicht negativ auffallen – etwa mit dem falschen Netz.
Wir sind immer gern aufs Feld gegangen, wenn die anderen nicht da waren: in der Woche morgens vor dem ersten Video-Meeting mit meiner Redaktion oder am Sonntag. An den Wasserstellen kam es immer zum Plausch, da trifft man Leute ganz unterschiedlicher Couleur: Biofreaks mit selbst gestricktem Pulli, Jogger, die ab und zu mal vorbeihasten, SUV-Fahrer mit Schickimicki-Gummistiefeln, eine ältere alleinstehende Dame – und alle haben dasselbe Thema, haben sich etwas zu erzählen. Manche wurden auch beklaut, plötzlich waren Pflanzen weg, trotz Videoüberwachung. Und das ist kein Spaß, sondern eine Straftat.
Die Glücksgefühle beim Urban Planting: Morgenroutine mit Muskelkater
Das erste Erfolgserlebnis? Unsere Radieschen, die ersten haben wir direkt am Feld vernascht und sie dann zu Hause zelebriert, auf weißen Tellern. Ich hatte oft Angst, im Garten etwas komplett falsch zu machen, nicht gut mit der Pflanzen umzugehen, und solch ein Erlebnis hat mich dann glücklich gemacht. Klar, die Arbeit ist hart und echter Sport: alles durchharken, Netze hochnehmen, mit bis zu 20 Kannen wässern, da spürst du jeden Muskel. Das war aber für mich eine tolle Morgenroutine vor der Arbeit am Schreibtisch.
Meine Bilanz: Feldversuch geglückt!
Im Sommer wird es brutal heiß, einmal wollte ich nur schnell nach dem Rechten sehen, habe mich dann zwei Stunden eingegraben und mir einen krassen Sonnenbrand geholt. Typisch Steffi, ich bin eben auch Perfektionistin und habe, wie im Beruf, immer das Layout unseres Gartens im Blick gehabt. Die Kinder haben vor allem die Sonntagabende geliebt, wenn die Sonne über dem Feld unterging. Für unsere Familie war die Zeit des Urban Plantings ein tolles Teambuilding. Wenn wir grillen wollten, holten wir schnell ein paar Maiskolben, und bevor ich die Wochenendeinkäufe machte, schaute ich, was das Feld für uns bereithielt. Und alles schmeckte so viel besser, fester, saftiger und aromatischer als jede Supermarktware. Meine Bilanz: Feldversuch geglückt!
So klappts mit der Ernte beim Urban Planting
Die Berlinerin Carolin Engwert hat den preisgekrönten Blog www.hauptstadtgarten.de
Mit welchen falschen Erwartungen gehen viele Einsteiger an den ersten Gemüsegarten?
Viele glauben, sie könnten sich komplett davon ernähren. Das breite Angebot im Supermarkt führt oft zu falschen Vorstellungen, was alles verfügbar ist – Stichwort: Erdbeeren im Winter. Ein Garten verändert die Wahrnehmung von Lebensmitteln, man wird demütig, begreift, dass die Ernte nicht selbstverständlich ist. Wer erlebt hat, wie lange Möhren bis zur Ernte brauchen, lässt sie nie wieder im Gemüsefach vergammeln. Mein Tipp: Ansprüche runterschrauben und nicht frustriert sein, wenn etwas nicht klappt.
Worauf sollte man achten, wenn man sich einen Garten zulegt?
Die Anfahrt sollte nicht länger als 30 Minuten dauern. Wenn man länger braucht, kann ein automatisches Bewässerungssystem helfen, denn Gießen soll ja nicht zum Dauerstress werden.
Mit welchen Sorten startet man?
Pflegeleicht sind Zucchini, Bohnen, Kürbis, Spinat, Mangold, Radieschen und Tomatenpflanzen, auch Topinambur im Kübel für den Spätherbst. Ein voll sonniger Standort ist für alle wichtig. Diven wie Artischocken, Blumenkohl, Auberginen anfangs lieber meiden. Wer unsicher beim Pflanzen ist, kann eine Gemüsesorte an unterschiedlichen Standorten pflanzen. Von Radieschen, Möhren, Erbsen und Salaten lieber kleinere Mengen in Abständen von 2–3 Wochen aussäen, so wird nicht alles gleichzeitig reif. Sinnvoll ist es auch, schon im Frühling Lieblingsrezepte zu sammeln, dann ist man vorbereitet, wenn plötzlich alles wuchert.
Wie kalkuliert man Mengen?
Lieber eine große Vielfalt wählen statt große Mengen von einer Sorte. Und nie mehr als zwei, maximal drei Zucchini pflanzen – und ernten, wenn sie noch klein sind. Sie schmecken dann viel besser.
Wie kann man nachhaltig Urban Planting betreiben?
Gegen Krankheiten und Schädlinge kein Gift einsetzen und nur torffreie Erde verwenden. Leider werden fast alle Pflanzen in Plastiktöpfen angeboten, die Branche arbeitet an kompostierbaren Alternativen. Aber bis es soweit ist: möglichst wiederverwenden. Grünschnitt solltet ihr auch kompostieren – und der Garten muss nicht picobello sein. Lasst eine „wilde Ecke“ zu, sie bietet Lebensraum für Insekten, Eidechsen und hübsches Moos.
Dein ultimativer Tipp?
Führt ein Gartenjournal: Schreibt einmal die Woche auf, was gesät, was geerntet wurde und wie das Wetter war. Das sind wertvolle Erkenntnisse, die man sonst schnell wieder vergisst!
Buchtipp
Perfekt für Neu-Schreber: Carolin Engwerts Buch „Abenteuer Garten“, 160 S., € 20, Kosmos